Der Torbogen in der Wilhelm-Heinrich-Straße … ein barockes Relikt?

Was historische Quellen aus dem Stadtarchiv beweisen können.

Torbogen in der Wilhelm-Heinrich-Straße 12 - Stadtarchiv Saarbrücken, Ruth Bauer

Torbogen in der Wilhelm-Heinrich-Straße 12 - Stadtarchiv Saarbrücken, Ruth Bauer

Torbogen in der Wilhelm-Heinrich-Straße 12 - Stadtarchiv Saarbrücken, Ruth Bauer

Die Meisten gehen wohl achtlos an ihm vorüber. Einzelne, die ihn wahrnehmen, schütteln meist den Kopf ob der zahlreichen Schmierereien auf seiner Mauer. Einige bleiben jedoch stehen und rätseln, von welchem Gebäude er wohl übriggeblieben sein könnte? Welche Geschichte er erzählen könnte?

Gemeint ist der zugemauerte und derzeit mit Graffiti "verzierte" rudimentäre Torbogen in der Saarbrücker Wilhelm-Heinrich-Straße 12. Recht verloren steht er da, erinnert an vergangene, zerstörerische Zeiten, einerseits angelehnt an einen barockisierenden Neubau der späten 1970er Jahre, andererseits gestützt durch eine mehrere Meter lange Mauer.

Der Schlussstein des Torbogens mit Eule - Stadtarchiv Saarbrücken, Ruth Bauer

Der Schlussstein des Torbogens mit Eule - Stadtarchiv Saarbrücken, Ruth Bauer

Der Schlussstein des Torbogens mit Eule - Stadtarchiv Saarbrücken, Ruth Bauer

Auffallend markant, neben den Graffitis, wirkt sein Schlussstein. Diesen ziert das Symbol der Weisheit, der Klugheit, der Intuition, der Intelligenz, der Erleuchtung — eine Eule.

Blicken wir mit ihren wachen Augen in die Vergangenheit und bringen etwas Licht in die Dunkelheit um die Geheimnisse dieses Torbogens in einer einst fürstlichen Straße.

Dass der Torbogen nicht aus der Zeit Stengels stammen kann, sondern sehr viel später entstanden sein muss, das erkennt das geschulte Auge der Fachfrau oder des Fachmannes an dessen architektonischer Gestaltung recht schnell.

Die Wilhelm-Heinrich-Straße

Die Geschichte der Wilhelm-Heinrich-Straße beginnt im Jahr 1746 als „Reformierte Kirchgass“. Parallel zur alten Stadtmauer führte sie vorbei an der gerade vollendeten Reformierten Kirche, der heutigen Friedenskirche, hin zur Saar. Ihren westlichen Abschluss bildete zunächst das Gebäude des Ludwigsgymnasiums, später bildete sie die Achse zum Ludwigsplatz (1760) mit der Ludwigskirche (1762-1775) in seiner Mitte.

Der Volksmund allerdings nannte sie „Neugasse“, seit 1749 hieß sie offiziell Wilhelmstraße und seit 1907 trägt sie den vollständigen Namen des Fürsten Wilhelm Heinrich von Nassau-Saarbrücken, der sie anlegen ließ. Den neuen eindrucksvollen Straßenzug konzipierte sein Hofbaumeister Friedrich Joachim Stengel.

Friedrich Joachim Stengel (1694-1787) zählt zu den Stadtplanern und Architekten, die das Gesicht der Stadt Saarbrücken in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nachhaltig verändert haben. Er entwickelte neue stadtplanerische Ideen und gestaltete zusammen mit dem seit 1741 regierenden Fürsten Wilhelm Heinrich die Stadt zu einer der bedeutendsten barocken Residenzstädte im südwestdeutschen Raum um.

Nach seinen Vorgaben erfolgten der Neubau des Schlosses (1738-1748) und des Schlossplatzes (1750), ebenso wie die westliche Erweiterung der Stadt bis hin zur Ludwigskirche. Und auf dem Weg dorthin entstand, wie beschrieben, die heutige Wilhelm-Heinrich-Straße, als barocke Prachtchaussee mit einheitlich gestalteten zweigeschossigen, größeren und kleineren Palais, ganz ähnlich denen in der Talstraße oder am Ludwigsplatz. Hier wohnte die Saarbrücker Oberschicht, Hofbeamte, ebenso wie Maitressen und auch Baumeister Stengel selbst.

Fassade des Saarbrücker Schlosses - LHS

Fassade des Saarbrücker Schlosses - LHS

Fassade des Saarbrücker Schlosses - LHS

Moden ändern sich

Den Glanz jener fürstlichen Jahre lässt ihr heutiges verändertes Erscheinungsbild nur noch erahnen. Nicht allein die Bombenangriffe während des Zweiten Weltkriegs haben die einheitliche architektonische Gestaltung ihrer Häuser zerstört, nein, bereits die Moden und Anforderungen der nachfolgenden Jahrzehnte hatten das Gesicht der Straße einschneidend verändert.

So geschätzt wie heute wurden die barocken Bauten Stengels nämlich nicht zu allen Zeiten. Kaum waren sie vollendet, sah die nachfolgende Generation der Klassizisten die barocke Baukunst einzig als Entartung der Renaissance an. Abfällig und pauschal bezeichnete man sie nun als Zopfstil, als Verwilderung und Willkür. Die stengelschen Bauten wurden umgebaut, aufgestockt und aktuellen Baumoden angepasst. Ihren architektonisch geschlossenen Charakter verlor die Straße schließlich Ende des 19. Jahrhunderts durch die Anlage des Neumarktes, dem neu konzipierten Stadtzentrum Saarbrückens, mit der Markthalle und dem Saalbau.

Und dessen neue Gebäude errichtete man in den jetzt zeitgemäßen historistischen Formen! Wie rund 150 Jahre zuvor Stengel hatten auch die jetzigen Verantwortlichen dabei keinerlei Scheu, die diesem Vorhaben im Weg stehenden Gebäude abzureißen. Für die Anlage der Neugasse hatte Stengel große Teile der alten Stadtmauer abgerissen und den Stadtgraben verfüllt. Nun musste der prächtige große Marstall (spätere Dragonerkaserne) den neuen stadtplanerischen Ideen rund um die Markthalle weichen.

Zur Geschichte des Hauses und des Torbogens

Doch nun zur Geschichte des Torbogens. Um diese und die des Gebäudes, zu dem er einst Zugang verschaffte, zu erkunden, bedarf es - neben etwas detektivischem Spürsinn - historischer Zeugnisse und Hilfsmittel. Diese werden zum großen Teil im Saarbrücker Stadtarchiv aufbewahrt. Zu den ältesten überlieferten zeitgenössischen Quellen gehören die Tractuskarten, die Vorläufer der heutigen Katasterkarten, mit den dazugehörigen Bann- und Flurbüchern. Letztere geben Auskunft über die jeweiligen Eigentümer der in den Tractuskarten durchnummerierten Anwesen.

Weiter können alte Stadtpläne, die Adressbücher, Nachkriegsfotos und nicht zuletzt Bauakten befragt werden. Die Stadt Saarbrücken darf sich glücklich schätzen - als eine von ganz wenigen deutschen Städten - noch fast alle Bauakten seit deren Entstehung Ende der 1860er Jahre verwahren zu können. Ein Fundus, um den sie viele Städte wahrlich beneiden. Die ursprünglichen Stengelschen Baupläne sind leider nicht erhalten.

Tractus 1780/1781 - Stadtarchiv Saarbrücken

Tractus 1780/1781 - Stadtarchiv Saarbrücken

Tractus 1780/1781 - Stadtarchiv Saarbrücken

Die Tractuskarten und die dazugehörigen Bann- und Flurbücher ließ Wilhelm Heinrich für sein gesamtes Fürstentum erstellen. Ziel war, den jeweiligen Grundbesitz zu ermitteln, um entsprechend Steuern erheben zu können. Der Tractus für Saarbrücken wurde in den Jahren 1780/81 von Georg Valentin Knoerzer erstellt. Er zeigt die gesamte Ausdehnung der Stadt, die Straßenführungen sowie die einzelnen Parzellen.

Das Bann- und Flurbuch weist die jeweiligen Eigentümer aus. Beide besagen, dass das Saarbrücker Anwesen auf dem sich der heutige Torbogen befindet, unter der Nummer 218 aufgeführt, mit Hof, Scheuer, Stallung und sonstigen Gebäuden, im Jahr 1780 dem Schneider Adam Bauer gehörte. Und ein späterer Tractus, der 1820 erstellt wurde, und es unter der Nummer 259 führt, belegt, dass in jenen Jahren die Erben des Saarbrücker Kaufmannes Jeremias Lerch Eigentümer des Hauses und des dazugehörigen Grundstückes waren.

Somit kennen wir zwar ehemalige Eigentümer des Grundstückes und der darauf befindlichen Gebäude, ob an diesen in jenen Jahrzehnten bauliche Veränderungen vorgenommen worden sind oder wer alles in dem Haus gewohnt hat, erfahren wir indes aus diesen Quellen nicht.

Umbauten und Eigentümerwechsel

Bauantrag 1896: Aufstockung des Hauses um ein Geschoss durch Robert Laugs - Stadtarchiv Saarbrücken, V 61.HA-37558

Bauantrag 1896: Aufstockung des Hauses um ein Geschoss durch Robert Laugs - Stadtarchiv Saarbrücken, V 61.HA-37558

Bauantrag 1896: Aufstockung des Hauses um ein Geschoss durch Robert Laugs - Stadtarchiv Saarbrücken, V 61.HA-37558

Über die Umbauten und eventuelle Eigentümerwechsel seit 1876 gibt dann die erhaltene Bauakte Auskunft. Der Besitzer in jenem Jahr, Ferdinand Sehmer, beantragte den Einbau einer dreifenstrige Ladenfront in klassizistisch-historistischen Architekturformen.

1895 modernisierte der neue Hausherr Ernst Hollemeyer die im Erdgeschoss betriebene Gastwirtschaft. Zudem beantragte er die Erweiterung der Ladenfront, was ein entsprechender Antrag vom März 1896 belegt. Eine für das Erscheinungsbild des Anwesens gravierende Neugestaltung erfolgte dann nur ein halbes Jahr später.

Jetzt ließ der wiederum neue Eigentümer, Robert Laugs, das Haus (Bauantrag September 1896) um ein Geschoss aufstocken.

Der Geburtstag des Torbogens im Jahr 1900

Im Jahr 1900 erwarb schließlich der Gastwirt Paul Robert Grischy das Gebäude und betrieb hier fast zwanzig Jahre sein Restaurant. Er ließ die Räumlichkeiten zu diesem Zweck aufwendig umgestalten. Der 28. September 1900 ist der nachweisbare Geburtstag „unseres Torbogens“.

Dies belegen die in der Bauakte enthaltenen Bauzeichnungen zu den Baugesuchen vom 28. September 1900 und vom 9. Oktober 1904. Das von Grischy 1900 eingereichte Baugesuch zeigt die Front des Hauses nun erstmals mit „unserem Torbogen“, und zwar als Einfahrt zum Hof mit seinen Hintergebäuden.

Und die Bauzeichnung vom 8. Oktober 1904, in der die Erhöhung der Fensterbrüstungen beantragt wird, die man an der heutigen Ruine übrigens noch erkennen kann, zeigt den Torbogen mit einem ausgestalteten Schlussstein. Diese Zeichnung lässt zwar eher eine satyrhafte Maske als eine Eule erkennen, aber schmückende Details wurden häufig nicht so ausgeführt, wie im Bauantrag angegeben.

Nach dem Tod Paul Grischys im Dezember 1919 verkaufte seine Witwe das Anwesen an Arnold Hentschel. Dieser ließ 1924 den bisherigen rückwärtigen Pferdestall zu einer Autogarage umbauen. Sein Zigarren-Spezialhaus, das er nahe des Bahnhofs betrieb, lief somit wohl recht gut, denn Automobile konnten sich in jenen Jahren nur sehr Wohlhabende leisten.  Aber auch Arnold Hentschel war nur kurze Zeit Eigentümer des Anwesens.

Schaltstelle gegen die Trunksucht

Auszug aus dem Adressbuch 1926/27 zur Wilhelm-Heinrich-Straße 12 - Stadtarchiv Saarbrücken, AB 32

Auszug aus dem Adressbuch 1926/27 zur Wilhelm-Heinrich-Straße 12 - Stadtarchiv Saarbrücken, AB 32

Auszug aus dem Adressbuch 1926/27 zur Wilhelm-Heinrich-Straße 12 - Stadtarchiv Saarbrücken, AB 32

Wohl bereits 1926 erwarb der „Deutsche Verein gegen Alkoholismus“ das Gebäude.  Das Restaurant verpachtete der Verein nun als „Alkoholfreie Gaststätte“. Am 6. Juni 1929 beantragte man hierfür die Anbringung eines Werbeschildes für die „Basler Stuben“.

Aus den Saarbrücker Adressbüchern ist ersichtlich, dass in dem Haus jetzt gleichzeitig die „Amtliche Fürsorgestelle für Alkoholkranke“ residierte und wenige Jahre später ebenso die Ortsgruppe Saarbrücken des „Deutschen Hauptvereins des Blauen Kreuzes“. Dieser 1877 in der Schweiz gegründete Verein, der bald auch hunderte Ableger in Deutschland hatte, galt seinerzeit als größter protestantischer Akteur im Kampf gegen Alkoholmissbrauch.

Auch der „Vaterländische Frauenverein des Roten Kreuzes“ fand in dem Haus seit den 1930er Jahren seine Wirkungsstätte und nutzte die Küche der Gaststätte für seine „Mittelstands- und Diätküche“.

Das Haus Wilhelm-Heinrich-Straße 12 entwickelte sich somit in den 1920er Jahren gewissermaßen zu dem führenden Zentrum in Saarbrücken gegen Alkoholmissbrauch, einer Bewegung, die mit mehr oder weniger Erfolg, die gesundheitlichen und sozialen Folgen übermäßigen Alkoholkonsums aufzeigte und in der Weimarer Republik ihren Höhepunkt fand.

Krieg und Zerstörung

In den Bombennächten des Zweiten Weltkrieges wurden 80 Prozent der Saarbrücker Innenstadt in Schutt und Asche gelegt. Auch die Häuser der Wilhelm-Heinrich-Straße fielen dem Bombenhagel zum Opfer. Von dem Haus Wilhelm-Heinrich-Straße 12 blieb außer dem Torbogen nicht sehr viel erhalten. Das Liegenschaftsamt der Stadt Saarbrücken ließ nach dem Krieg alle Bauruinen der Stadt fotografisch dokumentieren, legte Schätzwerte fest, auf deren Grundlage die Eigentümer Entschädigungszahlungen für deren Wiederaufbau erhielten.

Diese Aufnahmen sind großenteils erhalten. So auch Fotos „unseres Torbogens“ aus den Jahren 1947 und 1957. Diese zeigen die Überreste der einstigen Tordurchfahrt fast genauso, wie wir sie gegenwärtig noch vor uns haben. Der Torbogen ist somit eins der wenigen übriggebliebenen architektonischen Zeugnisse der Bombennacht des 5. Oktobers 1944.

Das Rätsel um die Geschichte des Torbogens selbst konnte somit gelöst werden.  Warum indes die Eule sich in seinem Schlussstein niederließ, bleibt weiterhin ihr Geheimnis. (RB)